Pilotprojekt


Seminar 1: "Wertschätzender Umgang mit mir selbst und anderen"

11. - 14. Juni 2003

Gerda Bindonis Worte klingen noch in mir. Zwei Meter neben mir spüre ich sie. Kraftvoll zentriert und lebendig. 
In der Seelenwahrnehmung i s t sie Orientierung und das gewiss nicht nur für mich. In ihrer einzigartigen Mischung aus Mut, Tatkraft, Offenheit, Lebensfülle und Sehnsucht wirkt sie anziehend und bereichernd und wohltuend. Viele Menschen haben ihren Impuls zum Orientierungssemester freiwillig für sich gewählt, indem sie mitgestalten, es unterstützen oder daran teilnehmen. Die Geburtsstunde ihrer Vision nun zu erleben und quasi ein Teil davon sein zu dürfen, macht mich dankbar und staunend zugleich. Hab ich das verdient? Offensichtlich. Jedenfalls bin ich meiner Intuition gefolgt und meine Intuition sagt, ich bin am richtigen Platz. Mein Kopf fragt: "Was machen wir hier eigentlich?"

Ich schaue mich um. So viele erwachsene Menschen geben durch ihr Hier sein zu, dass sie nach Orientierung suchen! Sieh an! Unbekannten, deklarierten Weggefährten begegne ich selten. Ich fühle Scheu und Neugierde und blicke zu Alois Saurugg, dem ein feiner Ruf vorauseilt.

Elf Teilnehmer aus Deutschland und Österreich sind da und bilden einen Kreis mit Gerda und Alois Saurugg.
Der bekannte Theologe, Therapeut, Lehrtrainer und Vorstand des Linzer "Institutes für Persönlichkeitsentwicklung und Kommunikation" leitet das Seminar zum Thema "Wertschätzender Umgang mit sich und anderen". Er beginnt mit einem rituellen Kreistanz!

Bei den ersten Schritten Weg begegne ich deutlich meiner Unsicherheit und Angst. Worauf lasse ich mich hier ein? Was wird mir begegnen? Wird meine Hoffnung "auf eine bessere Welt" - anders kann ich es noch nicht benennen - genährt oder werde ich eine Enttäuschung erleben? Ich blicke mich um, suche Augenkontakt, während Alois uns im Wiegeschritt führt: "Fasst euch an den Händen, die linke gibt von Herzen, die rechte empfängt mit dem Herzen". Der Satz ist Balsam. Er wirkt auf mich wie ein Segen auf einem neuen Weg. Schritt für Schritt tanze ich in einer kleinen Gruppe von Frauen und Männern unterschiedlichen Alters und Berufung. Ich spüre, wie ich mich langsam öffne, wie ich Nähe erlebe, genau jetzt. Mit jedem Tanzschritt schlägt mein Herz fester und ich beginne zu strahlen. 

Die verbale Vorstellungsrunde ist die schönste, die ich je erlebt habe: "Mein Vorname ist verbunden mit meiner Identität und meinem Selbstwert" - persönliche Lebenswege und Wandlungsphasen werden über die Bedeutung des Namens erzählt.

Mir wird klar, dass es hier in keiner Weise um oktroyiertes Anpassen und diffuse Machtdemonstrationen geht, wie ich es immer wieder bei Seminaren zu unterschiedlichster Thematik erlebt habe und die mir den Inhalt verderben: Ich will keine Trennung mehr zwischen Wissen und Liebe. Wenn Wissen keine Hoffnung ermöglicht oder Hoffnung kein Wissen beinhaltet, will ich es nicht.

Es geht um Wertschätzung, Verständnis, Erkenntnis. Um Toleranz. Um Selbstreflexion über Wirklichkeiten, die jeder sich mit der jeweiligen Sicht auf die Situation gestaltet. Um "Brillen-Bewusstsein" in der Wahrnehmung. Um ein Begegnen im gerade möglichen Maß - was auch das schmerzvolle Erkennen und Annehmen von persönlichem "gerade Nicht-Können" und eigener Beschränktheit bedeutet. 
Ein hoher Anspruch. Das braucht ein Sich einlassen auf Unbekanntes - das ist heiß und gefährlich, das geht nahe! Im Gespräch stelle ich wiederholt fest, dass ich meine eigenen Wahrnehmungsfilter nicht wahrnehme! Wobei ich die Möglichkeit zulasse, in diesem Moment tatsächlich keinen Filter vor der Wahrnehmung zu haben! Kostbarer Augenblick.

"Ich glaube, das größte Geschenk, das ich von jemandem bekommen kann, ist, dass er mich sieht, mir zuhört, mich versteht und mich berührt. Das größte Geschenk, das ich einem anderen Menschen machen kann, ist, ihn zu sehen, ihm zuzuhören, ihn zu verstehen und ihn zu berühren. Wenn das gelingt, habe ich das Gefühl, dass wir uns wirklich begegnet sind." Aus: "Making Contact" von Virginia Satir

Virginia Satir, die Pionierin in der Familienheilung durch systemische Aufstellung wird in diesen Tagen noch oft und herzlich mit Lebensweisheiten zitiert. Alois Saurugg kannte sie persönlich und schwärmt von ihrer großen Weisheit und Intuition und ihrer unermesslichen Arbeit für die Menschheit. Ich liebe es, ihm zuzuhören, öffne mein Herz.

Das Gefühl, Mitglied einer Gruppe zu sein, wird rasch stärker und ist angenehm. Die Tänze (Gemeinschaft) und die Zentrierungsübungen (Selbstreflexion) klären mich und geben mir innere Sicherheit und Vertrauen. Ich nehme es sehr dankbar an, denn ich brauche es für das viele Neue, dem ich an Inhalten begegne, das mich betroffen macht und fordert. 

Der Unterricht ist ganzheitlich, mit vielen Körperübungen, Rollenspielen und Feedbackrunden. Den Wissenszugang:
"Es mit allen Sinnen erfahren und dann erst im Kopf abspeichern" erlebte ich bisher nur in der Yogalehrerausbildung. Meine Schul- und Universitätsausbildung verlief völlig anders und hat eine Abneigung gegen intellektuelles Reproduzieren erzeugt. Hier, im ersten Seminar von vielen im Orientierungssemester, werde ich endlich wieder so im Wissen unterrichtet, wie ich es schätze und annehmen kann - und als einzig richtig empfinde:
Alois leitet uns an, in der Gruppe komplexe Kommunikationsmuster über das Herz und die Sinne zu begreifen und erst dann intellektuell-kognitiv zu verstehen. Das ist Lernen ohne seelische Vergewaltigung durch ausschließlichen Verstandeseinsatz, und es ist Schwerarbeit, weil es an der eigenen Person ansetzt und die eigenen Störmuster deutlich macht. Wie auf dem Tempel zu Delphi schon stand: "Erkenne dich selbst", erkenne den eigenen Anteil am Geschehen, erkenne deine Brillen, mit der du die Welt siehst und auf sie reagierst und lerne, dir der Brillen bewusst zu sein. Der eigenen und der anderen. Ich entdecke durch die Rollenspiele mehr und mehr meiner Brillen und auch, wie schnell ich sie wechseln kann...

"Grundbedingungen für geglückte Kommunikation sind runde Persönlichkeiten, Menschen, die ihr Licht und ihren Schatten kennen, die Verantwortung für ihr Leben übernehmen und der Wahrheit des eigenen Herzens vertrauen" sagt Alois in seiner einzigartig zärtlichen, weisen Art, die es mir unmöglich macht, ihn zu überhören. Er zwinkert humorvoll in die Gruppe. Ich schlucke. Ich weiß, es stimmt. Ich weiß, diese Worte sind unser Auftrag, beschreiben ganz einfach unsere Lebensaufgabe und ich weiß auch, wie schwer es fällt, sie konsequent zu leben. 

Wie wird man eine "runde Persönlichkeit", wenn man noch keine ist?!

Wir erfahren die Bedeutung von niederem und hohem Selbstwert für das (eigene) Kommunikationsverhalten. Lernen in einer einprägsamen und zugleich anstrengenden Form, in der wir alle Profi-Erfahrung haben: Im Rollenspiel innerhalb einer - hier fiktiven - Familie. Denn Selbstwert ist ein anerzogener Wert, und genau darin liegt die Chance: Er kann umgelernt und erhöht werden! Wie?

Zunächst erkenne ich mich in unterschiedlichem Ausmaß in jeder Kommunikationsstörung, mir wird kalt, schlecht, der Kopf fühlt sich leer an, besonders wenn wir sozialen oder seelischen Missbrauch in ganz typischen, alltäglichen Familiensituationen "spielen".

Wir inszenieren am eigenen Leib mit Rollenverteilung klebriges "Placating", das beschwichtigende System, in dem einer die Erwartungen der anderen erfüllt und sich selbst und seine Bedürfnisse gar nicht wahrnimmt, geschweige denn für sie eintritt. 
Angreifendes "Blaming", das ständig Fehler bei den anderen sucht und einen Schuldigen zum Anklagen braucht. Starres, rationalisierendes "Computing", in dem Gefühle nicht gespürt, sondern gedacht werden ("Jetzt wäre es vielleicht passend, wenn ich mich froh, traurig, ängstlich, glücklich ... fühlte"). 
Das "Irrelevante System", in dem permanent die Ablenkung läuft, um eklatanten Liebesmangel zu überdecken. Wir hören von Krankheiten, die den Mustern zuzuordnen sind, vom visuellen, auditiven und kinästhetischen Typ und wo er häufig zu finden ist. Wir erfahren den Ausweg aus Mustern, die nicht mit dem eher wahrscheinlichen Kippen von einem Muster ins andere zu verwechseln sind.

Wir alle kennen die Muster, manche besser, aber wir kennen sie alle, und wir sind betroffen. Tiefe, stille Blicke werden gewechselt.
Wir erzählen aus dem Leben, hören von erfahrenen oder begangenen Missbräuchen. Wir stöhnen und seufzen, manche schütteln sich, lachen sehr laut und stellen uns weiterhin dem Lernprozess. 

Schließlich - erlösend! - das "kongruente System", das täglich geübt gehört. Ziel: authentisch kommunizieren. Wertschätzung der eigenen Person als Schlüssel für die Wertschätzung des Nächsten. 
Kongruente Kommunikation zeichnet sich durch Verhandeln aus, die Fähigkeit, Kompromisse einzugehen und immer wieder neu zu verhandeln. Um das zu können, braucht jeder Mensch "Tankstellen": Orte, Handlungen und Menschen, die ihm Regeneration und Lebensfreude bedeuten, wo er seinen "Pott des Selbstwertes" füllen kann. Ich nehme mir vor, kongruent sein zu üben. Jeden Tag!

Im Hier und Jetzt
eigenverantwortlich,
wertschätzend,
bezogen auf die Realität.
Fähig, ja und nein zu sagen. 

Mein Gefühl in der Gruppe am letzten Tag dieses Seminars?
Herzlich. Vertraut. Echtes Mitglied einer echten Gruppe. Volle Wertschätzung. Wir sehen uns bald wieder im Purkersdorfer Seminardom: "Empowerment" mit John Oliver Haugg. Mein Leben mit seinen Anforderungen rückt wieder in den Vordergrund.
Werde ich umsetzen können, was ich hier im geschützten Seminarrahmen gelernt habe? Wie viele "Ehrenrunden", in denen ich meine Selbstwertminimierungsprogramme erkennen kann, werde ich noch brauchen? Werde ich mir einen vollen Pott der Selbstliebe erlauben? 

Danke, Alois Saurugg, Lehrer mit dem großen Herzen! Gott segne dich und deine tausend wunderbaren Gaben!

Gabriele Haring

P.S.:
Im Rückblick erkenne ich noch deutlicher den Wert dieser Erfahrung: Wenn ich heute vor einem Problem stehe, dann ist meine erste Frage: "Warum sehe ich darin ein Problem? Welche andere Wahrnehmung steht mir noch zur Verfügung? Wird mein Handeln von Angst oder Liebe bestimmt?" Und, ebenso wichtig: Ich bin nicht allein. Da draußen gibt es ganz viele Weggefährten. Unterstützung findet in jedem Moment statt! Unabhängig von Zeit und Ort ist es ein Geben und Nehmen. Kongruenz ist der Schlüssel zu einer großen Verbundenheit mit vielen Menschen.

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